„Eine Gratwanderung“: DHB-Vizepräsident Winden über die rechtliche Seite der Regeländerungen

Die Veröffentlichung der fünf Regeländerungen durch handball-world.com sorgte Anfang März für einen Paukenschlag in der Handball-Szene. DHB-Vizepräsident Heinz Winden ist für die rechtliche Umsetzung der Änderungen verantwortlich. Im großen Interview mit handball-world.com erläutert der Jurist detailliert den Prozess, erklärt den rechtlichen Rahmen und lobt die Unparteiischen: „Hinter dem Handballschiedsrichter steckt immer ein kluger Kopf.“

Herr Winden, bevor wir auf die neuen Regeln eingehen, eine Frage zum Verfahren. Es gab Irritationen um die Veröffentlichung der Regeländerungen. Sie selbst haben im letzten Monat zweimal eine amtliche Bekanntmachung vorgenommen.

H.W.: In der Tat. Am 25. Januar 20016 beantragte die HBL, die von der IHF gewünschte Regelerprobung „Letzte 30 Sekunden“ durch den Bundesrat für die Spielsaison 2015/2016 und 2016/2017 rechtssicher beschließen zu lassen und amtlich bekannt zu geben. Das positive schriftliche Abstimmungsergebnis wurde am 9. Februar 2016 amtlich veröffentlicht. Von keiner Seite war eine Information über den Beschluss des IHF-Rates und die Bekanntgabe im Kongress vom 6. und 7. November 2015 in Sotschi erfolgt, mit dem besagte Regelerprobung und vier weitere Regeländerungen zum 1. Juli 2016 in Kraft gesetzt worden waren. Als mir dann am 2. März 2016 der Artikel von handball-world.com ins Auge sprang, glaubte ich, mich tritt ein Pferd. Um künftig solche Informationspannen zu vermeiden, habe ich auf beiden Seiten – DHB und IHF – Ursachenforschung betrieben. Nachdem ich dann am 7. März 2016 ein auf den 1. März datiertes IHF-Schreiben zur Regeländerung erhalten hatte, konnten die Änderungen – bisher leider nur in Kommentarsprache vorliegend – am 8. März 2016 amtlich bekannt gemacht werden. Jetzt gilt es, nach vorne zu schauen und kurzfristig auf einen präzisen, verständlichen Regeltext zu warten, der in das Regelwerk systemgerecht einzufügen ist.

Wäre ein anderer In-Kraft-Setzungs-Zeitpunkt als unmittelbar vor den Olympischen Spielen möglich gewesen?

H.W.: Im Prinzip schon. Aber das wäre aufgrund der IHF-Satzung entweder nur zwei Jahre früher oder zwei Jahre später (2018) möglich gewesen. Die vorgegebene statuarische Zeitschiene
machte es auch unmöglich, einen Erfahrungs- und Evaluierungsbericht der Bundesliga-Verbände und des DHB zur gewünschten Regelerprobung abzuwarten. Artikel 20 der IHFSatzung
schreibt vor, dass Regeländerungen vom Rat der IHF zu verabschieden und im Jahr der Männerweltmeisterschaft dem IHF-Kongress bekannt zu geben sind, weiter, dass die Änderungen vor dem 1. März des folgenden Jahres zu veröffentlichen und zum 1. Juli desselben Jahres in Kraft zu setzen sind.

Was heißt das konkret?

H.W.: Regeländerungen können nur in Jahren mit geraden Zahlen in Kraft gesetzt werden, worunter zwangsläufig alle vier Jahre ein Olympia-Jahr fällt. Diese Regelung zeigt die in den Sport-Statuten und Regeln häufiger auftauchende Gefahr der Überreglementierung, mit der man sich unnötigerweise selbst die Hände binden oder gar ein Eigentor schießen kann. Die
vorgenannte Zeitschiene zeigt auch, dass die Testergebnisse der Saison 2015/2016 nicht in die Beratungen von Sotschi und Umsetzung der Regelbeschlüsse einfließen konnten.

Sehen Sie im Handball-Regelwerk eine Gefahr der Überregulierung?

H.W.: Ich sehe eine Gratwanderung, die sich in der Häufung der Anfragen an die Rechtswarte und auch teilweise im zurückgehenden Schiedsrichternachwuchs bemerkbar macht. Das
Handballspiel ist das Schachspiel des Sports, nicht wegen seiner Komplexität und der komplizierten Regeln, sondern weil man den Ball mit Kopf und Hand wie eine Schachfigur zum gewünschten Ziel steuern kann. Und wie das Schachspiel zeigt, benötigt man für ein intelligentes Spiel kein komplexes, ausuferndes Regelwerk. Unser Regelwerk ist für die Neu- und
Quereinsteiger an der Handballbasis schwer erlernbar und umsetzbar geworden. Die zunehmende Reglementierung aller möglichen Spielsituationen führt zu einem komplexen
Sprachgemisch von Gesetzes-, Kommentar- und Erläuterungssprache. Die Unterabsätze der einzelnen Regeln werden immer tiefer gegliedert, und die Hin-, Her-, Rück- und
Querverweisungen auf andere Regelabsätze häufen sich.

Was macht es aus Ihrer Sicht noch so schwer?

H.W.: Die abstrakten Begriffe – wie zum Beispiel regelwidrig, rücksichtslos, unsportlich, grob unsportlich, besonders grob unsportlich – in welche die Schiedsrichter die Realität subsumieren müssen, nehmen zu und bedürfen weiterer Erläuterungen. Die Systematik des Regelungsstoffes, die das Lernen der Regeln erleichtern würde, geht verloren. Auch die neuen Regeln zeigen wieder, wie viel Papier und Worte man allein für eine Regeländerung benötigt. Den Leuten der Regelkommission, die wirklich Fachleute sind und das Optimale zu erreichen versuchen, zolle ich großen Respekt. Ebenso den Schiedsrichtern wie auch den Schiedsrichteranwärtern, die sich das Regelwerk in den Kopf implementieren und dann noch die Schiedsrichterprüfung bestehen müssen. Der Handballschiedsrichter ist der Sportler mit den höchsten geistigen Anforderungen. Muss er doch nicht nur das Regelwerk kennen, er muss es auch auf der Spielfläche mit einer hohen kognitiven, interpersonalen und emotionalen Intelligenz und einer präzisen Entscheidungskompetenz umsetzen. Wir können davon ausgehen, dass hinter dem Handballschiedsrichter immer ein kluger Kopf steckt.

Sind oder waren Sie auch Handballschiedsrichter?

H.W.: Nein. Mein IQ hat leider nicht zum Handballschiedsrichter gereicht, nur zum Vizepräsidenten Recht.

Welche Bedeutung sehen Sie in den neuen Regeländerungen für den Handballsport?

H.W.: Im Handballspiel selbst und im Regelwerk sehe ich momentan keine so große Lücke, deren Schließung erneut einen so großen Attraktivitätsschub verursachen könnte wie die Schnelle
Mitte seinerzeit. Während diese eine unmittelbare Auswirkung auf Spielkultur und Spielfluss hatte, betreffen die neuen Regeländerungen mehr die administrative Seite der Leitung des Spiels. In der Bedeutungsskala stufe ich die Änderungen in folgende Reihenfolge ein: Blaue Karte, Letzte Minute, Torwart als Feldspieler, Passives Spiel, Verletzter Spieler.

Was bedeutet dies im Einzelnen?

H.W.: Die Blaue Karte wird nicht nur von Seiten der Sportrechtler besondere Wertschätzung erfahren. Sie kann während des ganzen Spiels, nicht nur in den letzten 30 Sekunden, wegen
besonders rücksichtsloser oder grober Unsportlichkeit gezogen werden. Damit ist für Spieler, Verein und Zuschauer sofort klar, dass diese Disqualifikation eine automatische, d. h. sofortige vorläufige Sperre nach sich zieht. Es bedarf hierfür nicht mehr der Einstufung und Beschreibung des Vergehens im Spielbericht – was eine Erleichterung für die Schiedsrichter ist – und damit auch nicht mehr der Auslegung von Unschärfen. Die automatische Sperre ist keine Maßnahme des Regelwerks, sondern eine deutsche Besonderheit, die aus der DHB-Rechtsordnung (§ 17 RO) resultiert. Sie erleichtert auch den Spielleitenden Stellen und den Disziplinarorganen ihre Sanktionierungsfunktion. In ca. 80 Prozent der Fälle sind mit der Blauen Karte und damit der automatischen Sperre die begangenen Unsportlichkeiten genügend bestraft. Sehen die Schiedsrichter die Ein-Spiel-Sperre im Einzelfall nicht als ausreichend an, werden sie ausführlich im Spielformular berichten, was dann eine weitergehende Bestrafung durch die Spielleitende Stelle und die Sportgerichte nach sich zieht.

Als nächstes nannten Sie die „letzte Minute“ – was neu die letzten 30 Sekunden sind…

H.W.: Die Disqualifikation in den letzten 30 Sekunden – gleichgültig, ob mit oder ohne Blaue-Karte – und insbesondere der zu verhängende Siebenmeter werden bei knappem oder unentschiedenem Spielstand einen positiven Einfluss auf die Spielkultur haben. Hier treten jedoch aufgrund des bisherigen Wortlauts die ersten Ungereimtheiten und Fragen auf: Wenn
beispielsweise der gefoulte Angreifer in der Lage ist, ein Tor zu werfen, aber keins erzielt, ist die Folge: Kein Siebenmeter. Passt der Angreifer den Ball und sein Mitspieler erzielt kein Tor
(Lattenwurf), dann gibt es einen Siebenmeter…

Welche Bedeutung messen Sie der Regelerweiterung „Siebter Feldspieler“ bei?

H.W.: Diese Regelerweiterung stellt weniger einen Auftrag an die Schiedsrichter dar als eine taktische Möglichkeit für Trainer und Mannschaft. Weil sie neu und optional ist, wird mit ihr
experimentiert werden und dann erst eine echte Bewertung möglich sein. Ich glaube aber nicht an ihre Nachhaltigkeit außer beim Unterzahl-Spiel einer Mannschaft. Die Rückwechslung des 7. Feldspielers – als persönliche Bemerkung: Welches Gedränge im Angriff! – gegen den Torwart wird immer sehr rasch erfolgen, weil die Gefahr eines Gegentors größer ist als der taktische Vorteil, wenn es überhaupt einen gibt.

Das „Passive Spiel“ und der „Verletzte Spieler“ stehen in Ihrer Skala am Ende.

H.W.: Nach meiner Überzeugung schätzten die Schiedsrichter bisher beim Passiven Spiel die Zeitdauer zwischen Vorwarnsignal und Abpfiff wegen Zeitspiels durchweg intuitiv richtig und sachgerecht ein. Kurzum: Sie haben bisher durchweg immer ein spielgerechtes Ermessen ausgeübt. Der kritische Zeitpunkt ist nicht der Abpfiff, sondern der Anzeigezeitpunkt des Zeitspiels wie der Ruf „Zeit, Zeit“ hunderter Zuschauer-Schiedsrichter immer wieder zeigt. Nach der Regelerweiterung muss der Schiedsrichter neben der peripheren Beobachtung der Spielfläche und gleichzeitiger Fokussierung des Blicks auf Spieler und Ball auch noch seinen arithmetischen Gehirncluster in Aktion setzen und genau beim gezählten, siebten Pass „passives Spiel“ pfeifen, gleichgültig ob dies situationsgerecht ist und wie aggressiv und mehr oder weniger regelgerecht die Abwehr agiert. Erfolgt beispielsweise nach dem sechsten Pass ein Eckeinwurf, ist nur noch ein Pass möglich, auf den der Torwurf erfolgen muss. Dies wird jedoch eine hierauf trainierte Abwehr leicht verhindern können. Da hilft auch kein Kempa-Trick mehr. Man darf gespannt sein, ob die Vorhersehbarkeit und Auszählbarkeit des Abpfiffs zu einer erhöhten Destruktivität und Aggressivität der Abwehr führt. Ich hätte diese Regelerweiterung lieber als Anhaltspunkt für die Zeitdauer des Vorwarnsignals und damit lediglich als Empfehlung an die Schiedsrichter statt als „Muss“ gesehen.

Und die fünfte und letzte Regeländerung – die drei Angriffe Pause für einen medizinisch versorgten Spieler?

H.W.: Man darf gespannt sein, wie die vorgenannte Regel und die Regel „Verletzter Spieler“ sich bewähren oder ob sie vielleicht vor In-Kraft-Treten während der Regeltext-Formulierungsphase noch nachjustiert werden. Letztere Regel beruht auf einer schwachen Logik und einer zweifelhaften Rechtfertigungsgrundlage, wenn die angebliche Schauspielerei
als scheinbare Normalität der verletzten Spieler das Motiv für die Änderung sein soll. Die meisten Verletzungen, verursacht durch Regelwidrigkeit oder unsportliches Verhalten – mit
progressiver Bestrafung – des Abwehrspielers, erleiden die Angreifer, deren eigene Mannschaft durch die Unterbrechung des Spielflusses benachteiligt wird. Die Behandlung auf dem Spielfeld nur nach bloßer Regelwidrigkeit, nicht nach progressiver
Bestrafung hat das Aussetzen von drei Angriffen zur Folge. Damit ist die erstrebte Zielerreichung – nämlich Reduktion der Zahl der Behandlungen auf dem Spielfeld – schon eingeschränkt. Weiterhin kommt hinzu, dass der verletzte Spieler sich kaum wegen der drei Angriffe nicht behandeln lässt oder vorher vom Spielfeld humpelt, weil er weiß, dass in den meisten Fällen nur eine sofortige Vereisung noch auf der Spielfläche den Beginn eines pathologischen Prozesses (z. B. Schwellung) verhindern kann. Ferner ist das Aussetzen von drei Angriffen weniger gravierend für die Mannschaft, wenn es nicht gerade der beste Spieler ist, weil die Mannschaft sich sofort ergänzen kann (anders als im Fußball). Und wenn zu alldem auch noch die Fernsehübertragungszeiten als mögliches Motiv für die Regelerweiterung hinzukommen, ist festzustellen, dass nicht alles, was ins Spitzenligen machbar ist, in unteren Ligen zwangsläufig sinnvoll sein muss. In unteren Ligen kommt das Problem fehlender Schiedsrichter, Zeitnehmer und Sekretäre hinzu, so dass auch deshalb bezüglich dieser Regel eine Öffnungsklausel für die Verbände dringend zu empfehlen ist.

(Julia Nikoleit – handball-world.com)